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Channel: Aus der Stadt – Fränkischer Anzeiger
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Hände erzählen Geschichte

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Gästeführerin Petra Kreinz führt auf ihre eigene Weise durch die Stadt

ROTHENBURG – Ein visuelles Erlebnis ist die Tauberstadt ohne Zweifel. Bei einigen Touristen sind die Blicke aber nicht ausschließlich auf die historischen Sehenswürdigkeiten gerichtet. Sie hängen auch sozusagen an den Lippen und vor allem an den Händen von Petra Kreinz. Die 49-Jährige arbeitet als Stadtführerin in Rothenburg. Optisch präsent zu sein ist für sie dabei besonders wichtig. Denn sie erklärt den Besuchern ihre Heimatstadt in Gebärdensprache.

Ohne Töne, aber mit großer Begeisterung erklärt Petra Kreinz Touristen ihre Heimatstadt.  Fotos: Scheuenstuhl

Ohne Töne, aber mit großer Begeisterung erklärt Petra Kreinz Touristen ihre Heimatstadt. Fotos: Scheuenstuhl

Sein Wissen mit anderen teilen und gleichzeitig dabei noch eine Lücke schließen: So könnte man Petra Kreinz’ Beweggründe zusammenfassen, Anderen die Besonderheiten Rothenburgs näherzubringen. „Es sollte auch hier jemanden geben, der für Gehörlose Stadtführungen anbietet“, dachte sie sich und führte dies gleich selbst in die Tat um. Zwar ist sie in der Tauberstadt geboren und aufgewachsen. Mittlerweile lebt sie aber mit ihrem ebenfalls gehörlosen Mann und ihrem hörenden Sohn in Neusitz.

Vieles was Petra Kreinz über die Stadt weiß, hat sie ihrem Vater zu verdanken, der ihr immer zahlreiche interessante Geschichten erzählte. Auf diese Weise kennt sie seit Kindertagen die entsprechenden Gebärden für historische Begebenheiten, die man ansonsten im Alltag eher selten benutzt. Dies war von Vorteil, als sie die achtmonatige Ausbildung zur Gästeführerin an der Rothenburger Volkshochschule machte.

Während den hörenden Teilnehmern die Ausbildungsinhalte vor allem mündlich vermittel wurden, bekam Petra Kreinz zusätzliche Blätter, damit sie den Lehrstoff nachlesen konnte. Erst zur praktischen Prüfung war auch ein Gebärdensprachdolmetscher anwesend. Seit 2010 ist sie nun „mit Leidenschaft Gästeführerin“, wie sie betont.

Die Nachfrage nach Führungen in „Gebärdensprache variiere stark. Manchmal seien es drei Gruppen, manchmal zehn Gruppen pro Jahr, die der Rothenburg Tourismus Service (RTS) ihr vermittelt. Das könnte daran liegen, dass es nicht sehr bekannt ist, dass es dieses Angebot auch in Rothenburg gibt. Für Petra Kreinz persönlich hat dies Vor- und Nachteile. Auch wenn sie Fremden mit Freude ihre Stadt zeigt, so hat sie dafür wegen ihres eigentlichen Berufs nur begrenzt Zeit. Allerdings sei es wichtig ab und an eine Führung zu machen, um in der Thematik drin zu bleiben, erklärt sie.

„Ohne Schwierigkeiten“

Seit mittlerweile 23 Jahren arbeitet Petra Kreinz hauptberuflich als kaufmännische Angestellte im Büro des örtlichen Arbeitsplattenherstellers Lechner. Mit ihren Kollegen komme sie sehr gut aus. Die Kommunikation findet vor allem über das Lippenlesen statt, was „ohne Schwierigkeiten“ klappt. Nur in seltenen Ausnahmefällen sei es nötig, ein Wort auch einmal aufzuschreiben.

Nach der Grundschule in Würzburg und der Wirtschaftsschule in Heidelberg – beides waren Internate –, absolvierte Petra Kreinz in Rothenburg eine Ausbildung zur Zahntechnikerin. Hierfür besuchte sie in Nürnberg die Blockschule für Hörgeschädigte. Anschließend arbeitete sie eine Zeit lang in Wörnitz als kaufmännische Angestellte.

Der gemeinsame Berufsalltag mit Hörenden läuft bei Petra Kreinz reibungslos. Für unser Gespräch konnte sie jedoch einen Freund gewinnen, der für uns übersetzte. Thomas Grüner kommt aus Bechhofen, ist hochgradig hörgeschädigt und arbeitet bei der Telekom in Nürnberg. Die beiden lernten sich 2002 im Gehörlosenverein Ansbach kennen und sind seitdem befreundet.

Petra Kreinz muss bei ihren Führungen ein paar Dinge beachten, die für ihre hörenden Kollegen bei ihrer Arbeit überhaupt keine Rolle spielen. Während des Sprechens auf eine architektonische Besonderheit zeigen und sich dabei leicht abwenden? Nicht möglich. Die Teilnehmer bei Petra Kreinz’ Führungen stellen sich geordnet im Halbkreis auf, damit jeder eine optimale Sicht auf ihr Gesicht und ihre Hände hat. Höchstens 20 oder 25 Personen sollten deshalb zugleich an einer ihrer Führungen teilnehmen.

Etwa eineinhalb Stunden dauert die Runde durch die Stadt. Wenn St. Jakob mit dabei ist, sind sie zwei Stunden unterwegs. Der Sakralbau hält eine weitere Falle bereit: Es muss eine Stelle im Kirchenraum gefunden werden, die genügend Licht auf Petra Kreinz wirft. Aber auch im Freien ist darauf zu achten, dass kein Schatten auf ihr Gesicht fällt. Zudem sind Regen und Schnee keine optimalen Wetterbedingungen, nicht nur wegen der eingeschränkten Sicht: Sich mit einem Regenschirm zu schützen und gleichzeitig zu gebärden, bedarf eines gewissen Einfallsreichtums.

Wie in jeder Besuchergruppe gibt es auch bei ihren Teilnehmern Wissensunterschiede. Manche Wörter sind einfach zu spezifisch, als dass sie bei den meisten im passiven (Gebärden-)Wortschatz vorkommen. Gehörlose schnappen neue Wörter oder Gebärden ja nicht mal so nebenbei auf, wie Hörende gesprochene Wörter. Bei bestimmten Begriffen – wie etwa „Lettner“ – behilft sich Petra Kreinz deshalb mit dem Fingeralphabet und buchstabiert sie. Manchmal fragt sie ihren Sohn, der Gebärdensprache beherrscht, wie man etwas vereinfacht darstellen kann.

Illustration aus Gebärdenwörterbuch „Hand in Hand die Welt begreifen“.

Illustration aus Gebärdenwörterbuch „Hand in Hand die Welt begreifen“.

Laut Petra Kreinz macht es schon einen Unterschied, ob ein Gehörloser für Gehörlose oder ein Hörender für Gehörlose (in Gebärdensprache) eine Stadtführung macht. Es sei dabei einfach ein anderer Erfahrungshintergrund gegeben. Zudem gehe durch eine Übersetzung auch immer etwas verloren. Um sich mit anderen gehörlosen Städteführern über die jeweiligen Erfahrungen auszutauschen, ist ein Treffen in Planung. Auch den Austausch zwischen Hörenden und Gehörlosen finden Petra Kreinz und Thomas Grüner wichtig.

Fehlendes Verständnis

Im Alltag in Geschäften oder auf Ämtern fehle oftmals das Verständnis für hörbeeinträchtigte Menschen, weiß Thoms Grüner. In Amerika, wo er Verwandte hat, herrsche eine ganz andere gesellschaftliche Offenheit. „Sobald die Leute merken, dass man gehörlos ist, versuchen sie mit Gebärden zu kommunizieren“, beschreibt er seine Erfahrung. Analog zu den Lautsprachen gibt es auch nationale Gebärdensprachen. Aber einige Gebärden scheinen für Alltagsgespräche universell verständlich zu sein.

Auch was die Barrierefreiheit im Fernsehen betrifft, sind andere Länder, darunter viele europäische Staaten, Deutschland weit voraus. Zwar integrieren gerade die öffentlich-rechtlichen Sender in ihr Fernsehangebot Untertitel. Doch für Gehörlose, die ausschließlich die Deutsche Gebärdensprache kennen, die eine andere Grammatik als die deutsche Lautsprache hat, sind die Untertitel mitunter schwer zu verstehen.

Eine Lösung dafür wäre es, zusätzlich noch Gebärdensprachdolmetscher im Bild einzublenden. Doch dies ist im Fernsehen bislang nur bei „Phoenix“, dem Ereignis- und Dokumentationskanal der öffentlich-rechtlichen Sender, der Fall. Und zwar einmal am Tag bei der Tagesschau um 20 Uhr, wo simultan übersetzt wird. Ein paar weitere öffentliche Kanäle halten auf ihren Netzseiten in den Mediatheken Nachrichtensendungen mit Gebärdensprachübersetzung bereit.

Großen Unmut beim Deutschen Gehörlosen-Bund löste kürzlich die Entscheidung des Westdeutschen Rundfunks aus, sich aus der Co-Finanzierung von 15 Prozent der Produktionskosten des Fernsehformats „Sehen statt hören“ zurückzuziehen. Diese halbstündige Sendung, die samstags in den Dritten Programmen zu sehen ist, genießt bei vielen Mitgliedern der Gebärdensprachgemeinschaft einen sehr hohen Stellenwert. Seit mittlerweile 40 Jahren bietet sie relevante Informationen aus allen gesellschaftlichen Bereichen. Die Moderation wird gebärdet und die gesamte Sendung ist untertitelt.

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Thema in die Öffentlichkeit

Dass Gehörlosigkeit durchaus ein Thema für die breite Öffentlichkeit sein kann, zeigten im vergangenen Jahr unsere französischen Nachbarn. In der Filmkomödie „Verstehen Sie die Béliers“ wurde die Geschichte einer gehörlosen Familie erzählt, die im Alltag auf die Hilfe der hörenden Tochter angewiesen ist. Diese – gespielt von der national berühmten Sängerin Louane – entdeckt ihre Leidenschaft für das Singen und zeigt in einer Szene, welch anmutende Symbiose Gesang und Gebärden eingehen können.Beispiele für das Zusammenwirken von Musik und Gehörlosigkeit gibt es zahlreich im Weltnetz. So versieht etwa „N-Joy“, das Jugendportal des Norddeutschen Rundfunks, in Videos aktuelle deutsche Lieder mit der Übersetzung in Gebärdensprache durch Laura M. Schwengber.

Die diplomierte Gebärdensprachdolmetscherin hat darüber hinaus bereits zwei Konzerte der deutschen Gruppe „Revolverheld“ zeitgleich auf der Bühne in Gebärdensprache übersetzt. Auch hörende Zuschauer waren begeistert von den Emotionen, die man mit Gebärden transportieren kann. mes


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