Tilman Riemenschneiders Bildwerke im Zeichen der Kirchenreform
ROTHENBURG – Für Rothenburg war Riemenschneider von besonderer Bedeutung. Man darf zwar nicht übersehen, dass im Würzburger Raum im Zeitalter des Barocks sehr viele mittelalterliche Altäre durch neue ersetzt wurden und damit manches von Tilman Riemenschneider, seiner Werkstatt und seinen Schülern vernichtet wurde. Es fällt aber doch auf, dass um 1500 so gut wie alle größeren Aufträge aus Rothenburg an den virtuosen Würzburger Bildschnitzer gingen.
![]()
Das Retabel in der Wettringer Kirche steht eindeutig in der Tradition Riemenschneiders. Fotos: sis
Im Rahmen der Vortragsreihe „Rothenburger Diskurse“ hielt der Kunsthistoriker Prof. Dr. Hartmut Krohm aus Berlin, der sich seit fast vierzig Jahren immer wieder mit dem Würzburger Bildschitzer von europäischem Rang beschäftigt hat, im städtischen Musiksaal vor rund fünfzig interessierten Zuhörern einen fundierten Vortrag durch fachliche Kompetenz. Im Zusammenhang mit der Riemenschneider-Forschung sieht er noch viele offene Fragen. Er wünscht sich in näherer oder fernerer Zukunft eine wissenschaftliche Forschungsarbeit, eine „Monographie“, die sich mit Riemenschneiders Werken in und um Rothenburg beschäftigen wird.
Innerhalb der Kunstgeschichte Rothenburgs um 1500 kam den Aufträgen an Riemenschneider wie auch seiner unmittelbaren Nachfolge ein besonderer Stellenwert zu. Dies spricht zum einen für eine offensichtlich große Wertschätzung seines Talents, zum anderen aber auch für die Bedeutung, die von Seiten der Auftraggeber der religiösen Aussage seiner Kunst beigemessen wurde.
Riemenschneider zählt zu jenen Dürer-zeitlichen Künstlern, die sich in ihrem Schaffen einer altkirchlichen Reformpolitik verpflichtet sahen und unter diesem Aspekt einen wesentlichen Beitrag leisteten. In den Rothenburger Werken Riemenschneiders trifft man auf sehr ausgeprägte reformatorische Bestrebungen. Die geistlichen Institutionen der Stadt – vor allem der Deutsche Orden sowie die Klöster der Dominikanerinnen (heute Reichsstadtmuseum) und der Franziskaner (Herrngasse) – scheinen mit den neuen künstlerischen Entwicklungen und die über das Bild angestrebten theologischen Reformansätzen ihrer Zeit vertraut gewesen zu sein.
Neusitz: Riemenschneider-Schüler
Eine bedeutende Rolle dürfte dabei der Maler und Vorsteher des Franziskanerklosters Martin Schwarz gespielt haben. Er war dort selbst als Maler von hoher künstlerischer Bedeutung tätig. Seine besondere Aufgabe sah er darin, mitilfe seiner Klosterwerkstatt und des von außen hinzugezogenen, gerade in Würzburg selbstständig gewordenen Tilman Riemenschneider seinem Gotteshaus eine prachtvolle neue Ausstattung mit einem aufwändigen Hochaltarretabel zu geben.
Davon erhalten ist auch die erneuerte Brüstung des Lettners vor dem Chor aus dem Jahr 1494, von dieser stammen die zwölf großformatigen gemalten Tafeln der „Rothenburger Passion“ im Reichsstadtmuseum mit der Vorführung Jesus durch Pilatus und der Kreuzigung. Auch Riemenschneider setzte in seinen Bildwerken, allerdings auf weit selbstständigere Art, die Formensprache Schongauers fort. Dass Frater Martinus Schwarz in diesem Zusammenhang eine Vermittlerrolle gespielt haben könnte, ist nach Auffassung des Kunsthistorikers nicht auszuschließen. Mit dem Auftreten von Schwarz sowie Riemenschneider in Rothenburg war der Kunstentwicklung hier „eine neue Richtung zugewiesen“, so Prof. Krohm.
![]()
Riemenschneider-Experte: Hartmut Krohm.
Schon die Bilder von Friedrich Herlin auf der Rückseite des Hauptaltars von St. Jakob, den man von vorne mit seinen Heiligenfiguren als noch typisch statisch-mittelalterlich empfindet, weisen auf eine neue, von Reformvorstellungen beeinflussten Zeit voraus. Bei dem Werk wurde eine Neubestimmung im Rahmen eines tieferen Frömmigkeitsverständnisses angestrebt.
In Rothenburg und seiner Landwehr hat sich eine größere Anzahl von Werken Riemenschneiders und seiner Schule erhalten. Manches, was bis zum Ende der Reichsstadt noch erhalten war, wurde in den Kunsthandel verschleudert. Man kann diese Fragmente einstiger Rothenburger Altäre in den Museen Europas und sogar Nordamerikas bewundern.
Im für den Westchor von St. Jakob konzipierten, monochromen (nicht bemalten) Heiligblutaltar, zählt der zwischen 1501 und 1505 ausgeführte Figurenschmuck zu den Höhepunkten der Kunst Riemenschneiders überhaupt. Um dieses Vorhaben mit höchstem Anspruch zu realisieren, hatte man mit Erhart Harschner, dem der Entwurf und die Ausführung des Gehäuses zu verdanken ist, einen überragenden Schreiner in die Stadt geholt.
Ein weiterer Höhepunkt von Riemenschneiders Kunst ist der kurz darauf entstandene Creglinger Marienaltar. Die Franziskanerkirche und Detwang können „echte“ Arbeiten des Meisters vorweisen. Das Kruzifix von Neusitz mit den Assistenzfiguren Maria und Johannes Evangelista verweisen auf einen Riemenschneider-Schüler. Dabei war bei der Auftragserteilung offensichtlich von größter Bedeutung, dass der Gekreuzigte der von Riemenschneider verbreiteten Typik folgte.
Bei dem künstlerisch sehr qualitätvollen Kruzifix um 1490 in der Pfarrkirche in Insingen handelt es sich wohl um ein Werk aus der Riemenschneider-Werkstatt selbst. Das Retabel in der Pfarrkirche von Wettringen, ein aufwändiges Ensemble, wird einem talentierten Nachfolger des Würzburger Bildhauers zugerechnet.
Bei dem Wettringer Retabel handelt es sich um ein monchromes Altarwerk, ähnlich auch wie im Fall des Passions-Retabels in St. Peter und Paul in Detwang, das möglicherweise ursprünglich in der St.-Michaelskapelle auf dem St.-Jakobskirchhof in Rothenburg aufgestellt gewesen ist.
Prunksucht vorgeworfen
Wenn es um die Beurteilung der Frühzeit der Reformation geht, kennt die populärwissenschaftliche Sichtweise kaum ein größeres Gegensatzpaar als den sächsischen Kurfürsten Friedrich den Weisen (1463-1525), den Förderer und Beschützer Luthers, und Kardinal Albrecht von Brandenburg (1490-1545), der als Erzbischof von Magdeburg und Mainz den Ablasshandel missbrauchte und dem man Prunksucht und Ämterhäufung vorwarf. Und doch waren beide Kinder ihrer Zeit: Friedrich war wohl nicht so fortschrittlich und Albrecht nicht so reaktionär, wie es die konfessionell geprägte historische Überlieferung glauben machen möchte. In ihrer Kunstauffassung durchdrangen sich beispielweise altkirchliche und neue Vorstellungen.
Beide sammelten exzessiv Reliquien und präsentierten sie den Gläubigen; der sächsische Kurfürst in der Wittenberger Schlosskirche, Albrecht in seiner Residenzstadt Halle/Saale. Hier ging es nicht in erster Linie um die Selbstdarstellung, um reines Protzgehabe. Mit der Verehrung der „Heiltümer“ wollte man die Volksfrömmigkeit fördern.
Für die Wittenberger Schlosskirche hatte Friedrich der Weise 1505/06 ein großes Kruzifix anfertigen lassen, das einen zentralen Platz im Gotteshaus einnahm. 1760 ist es beim Brand der Kirche verlorengegangen. Der Schöpfer des Bildwerks war Tilman Riemenschneider (1460-1531). Wie fast alle bedeutenden bildenden Künstler der Zeit stand er unter dem Einfluss des Elsässers Martin Schongauer (1445/1450-1491), der wiederum stark vom Niederländer Rogier van der Weyden (1400-1464) und seiner „naturalistischen“ Kunst geprägt war. Kupferstiche von Schongauer hatten eine eminente Verbreitung und dienten zahllosen Malern als Vorlagen.
Zum Nachdenken anregen
Professor Krohm konzentrierte sich in seinen Ausführungen vor allem auf die Passionsdarstellungen Riemenschneiders. Der sächsische Kurfürst hatte sein Kruzifix sicherlich nicht allein deswegen bei ihm bestellt, weil er ein überragender „Techniker“ der Schnitzkunst war. Vielmehr stand der Würzburger Meister im Kontext einer neuartigen, auf individualisierte Frömmigkeit hinzielenden Interpretation der christlichen Kunst, die kurz vor der Reformation bahnbrechend wurde.
Die Betrachtung der Bildwerke sollte zum Nachdenken über die eigene Sündhaftigkeit anregen, damit Hilfe im Leben sein und die Hoffnung auf die Erlösung stärken. Deshalb besitzen die Figuren auf den Altären („Retabeln“) der Zeit oft ihr verklärtes Aussehen: Nicht das Leiden steht im Mittelpunkt, sondern die Aussicht auf das ewige Leben. Aus diesem Grund verwendete man auf den Bildern etwa für die Kleidung der Gottesmutter sehr teure, edle Farben und verlieh bei den Schnitzwerken den Figuren durch raffinierte Licht-Schatten-Effekte ein hohes Maß an Würde und Melancholie. Die Lichteffekte wiesen über den Tod hinaus; sie erscheinen als eine Art Inszenierung einer jenseitigen Herrlichkeit, an der der Betrachter dereinst teilhaben kann. rs/sis