FA-Interviewreihe Standpunkte (27): Die Situation eines Kassenarztes
ROTHENBURG – Dr. Bernhard Gessert ist Arzt mit Leib und Seele und hat sich in vielen medizinischen Bereichen aus- und weitergebildet. Der 65-Jährige wird im Laufe dieses Jahres seine Allgemeinpraxis im Zentro schließen. Einen Nachfolger hat er trotz intensiver Suche bisher nicht gefunden. Er selber wird weiter medizinisch tätig sein und schwerkranke oder sterbende Menschen betreuen. Im Beruf erlebt er Sinn und Erfüllung.
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Inmitten von Buschleuten: Der weiße Südafrikaner ist auf einer Rinder- und Schaffarm von Shark Island aufgewachsen. Fotos: privat
Als Mitglied mehrerer Notarzt-Verbände ist der erfahrene Mediziner sehr gefragt – auch für Einsätze im Ausland. Etwa als notärztliche Flugbegleitung bei dringenden Rücktransporten, um Schwerverwundete aus Kriegsgebieten auszufliegen oder ein Königskind aus Afrika für eine Spezialbehandlung nach Paris zu bringen. Auch Kreuzfahrt-Reedereien mit eingerichteter Praxis an Bord wollen den qualifizierten Arzt anheuern. Gerade hat er das Angebot eines Luxusliners für eine Malediven-Reise im Indischen Ozean auf dem Tisch. „Wenn mich hier nicht alles ärgert, würde ich auch noch ein paar Notarzt-Diens-te machen“, sagt er. Seit 1992 gehört er zum Notarztteam in Rothenburg und hat in diesen 26 Jahren rund 4500 Menschen in lebensbedrohlichen Situationen helfen können.
Außerdem hat er eine spezielle Ausbildung als Kindernotarzt. Er ist auch ein auf Reise- und Tropenmedizin fortgebildeter Arzt, der sogar Gelbfieberimpfungen durchführen darf, und besitzt die Qualifikation zur Akupunktur. Vor zehn Jahren hat sich der Rothenburger zum Palliativarzt ausbilden lassen, um das Leiden von Menschen am Lebensende zu lindern. Regelmäßig reist Dr. Bernhard Gessert in seine alte Heimat nach Südafrika, um die Hilfsorganisation „Clash“ zu unterstützen, die von einer Deutschen ins Leben gerufen wurde. Das Team kümmert sich um Kinder, die als schwerwiegende Folgen einer Mittelohrentzündung ihr Gehör verloren haben, und unterrichtet sie in Gebärdensprache für ein selbstbestimmtes Leben.
Dr. Bernhard Gessert ist ein Mann der klaren Worte und nimmt kein Blatt vor den Mund, wenn er sich die aktuelle Entwicklung der Gesundheitsversorgung in Rothenburg und im Landkreis Ansbach anschaut. In seiner Kritik schwingt die Sorge über die Zukunft mit. Man müsse den Tatsachen ins Auge sehen und zu Problemlösungen kommen. „Wenn der letzte Allgemeinarzt die Praxis geschlossen hat, die letzte Schwester Hartz IV empfängt, wird die Bevölkerung merken, dass der Herr Gesundheitsminister keine Hausbesuche macht.“
Für Rothenburg bedeutet die Schließung der alteingesessenen Arztpraxis einen großen Verlust. In Ihrer Entscheidung schwingt viel Frust mit.
Gessert: Ich bin immer noch gern Mediziner und werde es auch bleiben. Ich höre mit der Praxis auf, weil der Arbeits- und Kostenaufwand nicht mehr zumutbar ist. Ich habe mich lange genug ausbeuten lassen. Der fleißige Arzt muss heute Strafe zahlen für gute Medizin, weil alles budgetiert ist. Mit diesen politischen Rahmenbedingungen hat man jeden Tag im Praxisalltag zu kämpfen.
Wie kommt das Geld zum Arzt?
Gessert: Die ambulanten Ärzte werden nach einem komplexen System honoriert. Der weitaus größte Teil der Vergütung stammt von den gesetzlichen Krankenkassen und wird durch den Arzt im Rahmen seiner vertragsärztlichen Tätigkeit erwirtschaftet. Die Krankenkassen stellen für die ambulante Versorgung ihrer Versicherten einen bestimmten Betrag zur Verfügung – die sogenannte Gesamtvergütung. Das Geld geht nicht direkt von den Krankenkassen an den Arzt, sondern an die einzelnen Vereinigungen, die es wieder an die Ärzte verteilen. Ich habe den Anspruch, meine Patienten so gut zu behandeln, wie ich selber behandelt werden möchte. Würde ich meine Praxis nach kaufmännischen Kriterien führen, dürfte ich kein Arzt mehr sein. Man lebt in der Angst, in Regress genommen zu werden.
Kein Wunder, dass sich der Ärztemangel weiter zuspitzt.
Gessert: Nur noch rund elf Prozent der jungen Kollegen sind Allgemeinmediziner. Davon arbeitet nur noch die Hälfte selbstständig. Der andere Teil ist als angestellter Arzt in einer Praxis tätig und mit dem Gehalt auf der sicheren Seite.
Warum gehen die niedergelassenen Ärzte nicht auf die Barrikaden, um für deutlich mehr Honorar einzutreten? Mit dem „Spardiktat“ der Kassen werden nicht nur die Ärzte getroffen, sondern auch die Patienten.
Gessert: Früher waren die Allgemeinmediziner mit einem Anteil von 40 Prozent eine tragende Gesellschaft im Gesundheitssystem. Heute wird die Gesundheitsversorgung maßgeblich von der demographischen Entwicklung, medizinisch-technischen Neuerungen und ökonomischen Voraussetzungen bestimmt. Durch die zunehmende Spezialisierung gibt es immer mehr Ein-Organ-Mediziner und immer weniger Kollegen, die noch eine allumfassende Medizin machen. Es gibt Praxen, die sich auf Überweisungen und das Rezeptausstellen konzentrieren.
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Afrikanische Schnitzskulptur aus Donholz.
Wie groß ist Ihre Praxis?
Gessert: Ich betreue als Einzelarzt etwa 1400 Patienten im Quartal. Wenn sich kein Nachfolger findet, müssen sich – hochgerechnet auf das Jahr – 3500 bis 5000 Patienten eine neue medizinische Betreuung suchen. Die Kollegen haben signalisiert, dass sie ausgelastet sind und höchs-tens noch 20 oder 30 Leute aufnehmen können. Es hat auch Überlegungen gegeben, die Praxis in das Verbundsystem von ANregiomed zu integrieren. Aber es gab anscheinend wenig Interesse an einer Übernahme. Schon vor zwei Jahren habe ich den Landrat in einem Brief auf die Situation aufmerksam gemacht und auch den Oberbürgermeister angesprochen. Beide haben sich zum damaligen Zeitpunkt als nicht zuständig erklärt.
Die Hausarzt-Situation wird sich noch verschärfen.
Gessert: Die Kollegen haben das gleiche Problem mit der Nachfolge. Besser sieht es mit der Praxis Weltzer aus.
Es wird auch zunehmend schwieriger mit der Notarztversorgung.
Gessert: Bis vor etwa fünf Jahren haben nur niedergelassene Ärzte die Notarztversorgung organisiert. Dann kam im Wechsel das Krankenhaus dazu. Diese Notärzte dürfen nicht selber mit dem Auto fahren. Es wurde ein Einsatzfahrzeug angeschafft und ein Fahrer engagiert, der die Kollegen im Krankenhaus abholt und zurückbringt. Der Kostenaufwand ist entsprechend hoch.
Dann gibt es noch den Rettungshubschrauber im Landkreis am Flugplatz Dinkelsbühl-Sinnbronn.
Gessert: Der Sonnenschein-Hubschrauber kann bei vielen Witterungen nicht fliegen. Dann darf der Notarzt mit dem Auto fahren. Der Laie findet die Hubschrauber-Einsätze ganz toll. Da wird die Autobahn gesperrt oder ein anderes Szenario veranstaltet. Wenn man in dem Geschäft tätig ist, sieht man auch die kritische Seite. Eine Flugminute kostet 80 Euro. Da werden Ressourcen verflogen und gleichzeitig die Nachtwachen in Schillingsfürst und anderweitig im Landkreis geschlossen. Es werden auch Einsätze geflogen, die nicht nötig sind. Ich weiß, dass ich mit solchen Aussagen in den Augen von Kollegen Nestbeschmutzung betreibe. Aber ich bin gegen die Über- und Unterversorgung.
Bei der medizinischen Versorgung wird suggeriert: Jeder kriegt, was er braucht. Von wegen.
Gessert: Rationalisierung heißt das Tabuwort, das Politiker und Krankenkassen meiden. Praxen und Kliniken bekommen längst nicht alles, was hilft. Es kann doch nicht sein, dass in einem reichen Land wie Deutschland für kranke und alte Menschen zu wenig Geld da ist. Die Kassen sitzen auf Milliarden Euro Rücklagen. Es wird gutes Geld an der falschen Stelle verschwendet mit Programmen, die medizinischer Schwachsinn sind und unseren Beruf kaputt machen. Da liegen so viele Sachen im argen und wird mit Totschlagargumenten um sich geworfen, die absolut realitätsfremd sind.
Der Klinikverbund ANregiomed ist hoch verschuldet und die Rothenburger sorgen sich um den Erhalt des Rothenburger Krankenhauses.
Gessert: Dadurch, dass wir im Krankenhaus immer weniger Chefärzte haben, verlieren wir, wie jetzt in der Chirurgie, die Weiterbildungsermächtigung. Das hat Folgen. Das Krankenhaus wird langsam an Assistenzärzten ausbluten. Wie es weitergeht, wenn der Chefarzt der Gynäkologie und Geburtshilfe in den Ruhestand geht, wird sich noch zeigen. Der Chefarzt der Inneren Medizin, Dr. Wacker, soll meistens in Ansbach anzutreffen sein. Dr. Kiene wird abgeschliffen. Er arbeitet Tag und Nacht. Mal schauen, wie lange er und seine Kollegen diese Situation noch ertragen.
Auch in der Schwesternschaft wächst die Arbeitsbelastung.
Gessert: An Dienstjahren erfahrene Schwestern gehen auf dem Zahnfleisch und mussten auf Kur geschickt werden, weil sie nicht mehr konnten. Sie sind zu Modul-Schwestern geworden. Dieses Moduldenken kennen wir aus der Autoindustrie. Aber wir bauen keine Autos, sondern heilen Menschen.
Bei verschiedenen Gelegenheiten betonen Politiker immer wieder das gute Verhältnis zwischen niedergelassenen Ärzten und Klinikärzten.
Gessert: Das war der Fall, als Frau Dr. van Aersen noch am Krankenhaus war. Da hat man sich gegenseitig angerufen und kommuniziert. Danach ging der Austausch gegen Null – auch zwischen den Notärzten. Dies dürfte der schwierigen Gesamtsituation geschuldet sein. sis