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Wie man bei Grundschülern die Freude am Lesen wecken und wachhalten kann

ROTHENBURG – Auf den ersten Blick scheinen die Ergebnisse der jüngsten Internationalen Grundschul-Lese-Untersuchung (Iglu) für Deutschland gar nicht mal so negativ auszufallen. Doch sich nicht zu verschlechtern ist gerade im Bildungsbereich alles andere als gut genug – zumal es schier unendliche Möglichkeiten gibt, den Erwerb der Schriftsprache und das Textverständnis bei Grundschülern zu fördern, wie zwei hiesige Expertinnen für den Lese- und Bildungsbereich erklären.

In der Oberscheckenbacher Schulbücherei findet sich für jeden Geschmack und jedes Leseniveau das passende Buch. Foto: Scheuenstuhl

In der Oberscheckenbacher Schulbücherei findet sich für jeden Geschmack und jedes Leseniveau das passende Buch. Foto: Scheuenstuhl

Man könnte es als konstante Leistung würdigen oder aber als Stagnation kritisieren: Die Lesekompetenz deutscher Viertklässler hat sich im Vergleich zu den ersten Erhebungen im Jahr 2001 nicht signifikant verändert und liegt weiterhin über dem internationalen Mittelwert. Der Knackpunkt: Das Land der Dichter und Denker wurde nach unten durchgereicht auf einen Platz zwischen Slowenien und Kasachstan. Insgesamt 20 Staaten sind mittlerweile mit ihren Leistungen an Deutschland vorbeigezogen – was andererseits auch beweist, dass der Sprung nach vorne durchaus möglich ist. Doch was braucht es genau dafür?

Die Patentlösung hierfür zu haben maßt sich auch Hannelore Hochbauer nicht an. Die Leiterin der Rothenburger Stadtbücherei ist sich aber sicher, dass die ausbleibenden Verbesserungen nicht von einem Mangel an „Motivation und schönen Geschichten“ herrühren. Zwar hat sie naturgemäß vor allem mit jenen Kindern zu tun, die ihre Lust am Lesen in die Stadtbücherei treibt, dennoch stellt sie ein verändertes Leseverhalten gegenüber früher fest.

„Leseknick“ tritt früher auf

„Es gibt nach wie vor Kinder, die richtig viel lesen“, erklärt sie. Allerdings habe sich der sogenannte „Leseknick“ altersmäßig nach unten verschoben. Sonst sank erst bei 12- und 13-Jährigen angesichts neuer Interessen in der Pubertät die Lust am gedruckten Wort. Heutzutage nehmen schon 10- und 11-Jährige immer seltener ein Buch in die Hand. Die Umstellung von G9 auf G8 sowie die Ausbreitung der Ganztagesschulen habe da sicherlich mit hinein gespielt, meint Hannelore Hochbauer.

Aber auch die Digitalisierung trage ihrer Ansicht nach maßgeblich dazu bei, dass Bücher weiter ins Hintertreffen geraten, denn etwa Smartphones seien ein „wahnsinniger Zeitfresser“. Es besteht aber Hoffnung, denn diejenigen, die vor dem „Leseknick“ bereits eine Liebe zum Lesen entwickelt haben, kommen nach dieser „bücherarmen“ Zeit wieder darauf zurück. Im Umkehrschluss gilt deshalb, die natürliche Neugier an Geschichten zu fördern.

Aktion „Lies mit mir“: Ein Erstleser zeigt einem älteren Schüler seine Lesefertigkeit. Foto: privat

Aktion „Lies mit mir“: Ein Erstleser zeigt einem älteren Schüler seine Lesefertigkeit. Foto: privat

Dabei sei es äußerst wichtig, so die Fachfrau, früh ein Umfeld zu schaffen, wo „Sprache und Schrift viel vorkommen“, etwa mit Hilfe von Reimen, Liedern und dem Vorlesen. Das Interesse der Kinder dabei zu treffen ist Grundvoraussetzung, um sie dauerhaft für Literatur zu begeistern. Und dies ist wahrlich kein Hexenwerk mehr. Denn der Erstlesebereich kann heutzutage mit einem „wesentlich schöneren und breiteren Angebot“ aufwarten als bisher, so Hannelore Hochbauer, die in diesem Segment entsprechend gute Ausleihzahlen verzeichnet.

Allein für Leseanfänger der 1. und 2. Klasse finden sich 460 Titel in der Stadtbücherei, die auf unterschiedliche Weise die Kinder „da abholen, wo sie stehen“. So setzen manche Bücher etwa auf kurze Zeilen und viele Bilder, um die Kinder bei ihren ersten Leseversuchen nicht zu überfordern und zu frustrieren. Andere versuchen den Kindern mit farbigen Silben das Erschließen des Wortbilds zu erleichtern. Und dann gibt es noch jene Bücher, die nach dem Motto „erst ich ein Stück, dann du“ das gemeinsame Lesen von Kind und Eltern in den Mittelpunkt rücken.

Vorbildfunktion der Eltern

Letzteres sehen viele Experten als Schlüssel für eine nachhaltige Förderung der Lesekompetenz an. Denn: Warum sollten Kinder von sich aus ein Buch zur Hand nehmen wollen wenn sie von ihren Eltern vorgelebt bekommen, dass nicht lesen, sondern vielmehr der Blick auf das Smartphone ein gewinnbringender Zeitvertreib ist?“, fragt sie. Auch Gudrun Hartl, Leiterin der Verbandsschule Oberscheckenbach, misst dem „elterlichen Vorbild“ eine entscheidende Bedeutung für die Leseförderung zu.

Vorlesen ist der beste Weg, um bereits den Kindergarten- und Vorschulkindern zu zeigen, dass Bücher ganz spannend sein können und lesen wie „fernsehen im Kopf“ sei, sagt sie. Die auf diese Weise geweckte Lesefreude gilt es über die Jahre wachzuhalten. Anreize dafür gebe es viele, so die Rektorin. Man müsse einfach am Ball bleiben.

Welche Leistung ihre Kinder beim Lesenlernen vollbringen müssen, versucht Gudrun Hartl die Eltern gleich zu Beginn der 1. Klasse mit Hilfe von Hieroglyphen nachempfinden zu lassen. Grundsätzlich setzt sich der Bereich Lesen im Deutschunterricht der Grundschule aus zwei Teilen zusammen: die Lesetechnik und das Leseverständnis. Ersteres, also der Erwerb der Schriftsprache, ist Grundvoraussetzung, um Gedrucktes auch mit Sinn zu füllen.

Zunächst stehen die ABC-Schützen vor der Aufgabe, den Zeichencharakter der Schrift zu erfassen und die Laut- und Silbenstruktur der gesprochenen Sprache bewusst wahrzunehmen. Anschließend bauen sie Wörter auf und gliedern sie nach Lauten und Silben und setzen sie in Beziehung zu den entsprechenden Buchstaben und Buchstabengruppen. Mit der Zeit erfassen sie routiniert wiederkehrende Wortteile, Signalgruppen und Wortbausteine – sie erweitern also ihren sogenannten Sichtwortschatz.

Lesen macht dann erst richtig Spaß wenn man die Fertigkeit dafür besitzt. Doch zwischen Lesetechnik und Leseverständnis besteht kein Automatismus. Es wäre ein Trugschluss zu sagen, wer flüssig liest erfasst selbstverständlich auch den Sinn der Wörter. Auch das Textverständnis will gefördert werden. Für eine Lehrerin sei es ein sehr schöner Moment zu sehen, wie bei den Kindern der Knoten aufgeht und sie ein Wort nicht nur erlesen, sondern auch dessen Sinn erkennen, hebt Gudrun Hartl hervor, die momentan selbst eine 1. Klasse unterrichtet.

Individueller Leselernprozess

Als Erwachsener erinnert man sich in der Regel nicht daran, wie man selbst einst lesen gelernt hat und ist vielleicht verunsichert, wie der eigene Nachwuchs mit dieser Aufgabe wohl zurecht kommt. Der Leselernprozess ist von Kind zu Kind individuell verschieden, erklärt die Pädagogin. Das richtige Maß an fordern und fördern zu finden kann da mitunter ein Balanceakt sein.

Eltern entwickeln allerdings sehr schnell die nötige Sensibilität dafür, wie die aktuelle Leistungsfähigkeit ihres Kindes einzuschätzen ist, weiß sie. Bereits vor Weihnachten gibt es an der Verbandsschule erstmals Lesehausaufgaben. Täglich fünf bis 10 Minuten müssen sich die Erstklässler dann mit den neu gelernten Buchstaben auseinandersetzen. Der Erfolg stellt sich mit der Wiederholung ein, ist die Rektorin überzeugt, denn: „Übung macht den Meister.“

Neben einer gut bestückten Schulbibliothek, die von Schülern zum Großteil eigenverantwortlich geführt wird, erfreut sich auch das Projekt „Lies mit mir“ großer Beliebtheit bei den Oberscheckenbacher Schülern. Hierbei liest ein Erstleser einem älteren Schüler vor und beantwortet dessen Fragen zu dem gelesenen Text.

Richtig lesen zu können ist das A und O für die weitere Schullaufbahn, denn an den weiterführenden Schulen wird der Lehrstoff fast immer anhand von Texten vermittelt – auch in Mathematik und den Naturwissenschaften. mes


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