FA-Interviewreihe Standpunkte (23): Karl Herrscher engagiert sich für die Opferhilfe
ROTHENBURG – Ehrenamtliches Engagement macht unsere Gesellschaft menschlicher. Der gebürtige Rothenburger Karl Herrscher (73) hat sich im Ruhestand seiner sozialen Ader besonnen. Als geschulter Mitarbeiter des Weißen Ring und zuständiger Außenstellenleiter in Stadt und Landkreis Ansbach berät der lebenserfahrene und weitgereiste ehemalige Personalchef großer Unternehmen heute Kriminalitätsopfer. Betroffenen fällt es oft schwer, über das zu sprechen, was sie erlebt haben. Sie brauchen neben professioneller Hilfe vor allem menschlichen Beistand.
Karl Herrscher hat oft genug erlebt, dass sich Menschen schutzlos fühlen, dass sie denken, man glaubt ihnen nicht. Oder sie fühlen sich von Ämtern und Behörden unzureichend wahrgenommen. Nach Straftaten stehen die Opfer oft allein da. Wären da nicht engagierte Menschen, die in der Opferberatung arbeiten. Hauptaufgaben sind Trost, Verständnis und nützliche Ratschläge. Durch den Weißen Ring haben Betroffene einen Zugang zu einem umfangreichen Hilfsangebot, um Rat und Beistand zu finden.

Aktiv im (Un-)Ruhestand: Karl Herrscher ist eine gefragte Institution. Foto: Schäfer
1976 gründete Eduard Zimmermann, jahrelang Moderator des ZDF-Klassikers „Aktenzeichen XY … ungelöst“ den gemeinnützigen Opferhilfeverein, der sich durch Mitgliedsbeiträge, Spenden, Stiftungen sowie Zuweisungen von Geldbußen finanziert. Wie viele Vereine kämpft er gegen Mitgliederschwund. Das 40-jährige Bestehen der Organisation wird am kommenden Samstag in der Frankfurter Paulskirche gefeiert. Karl Herrscher gehört zum geladenen Gästekreis.
Es hat sich viel getan in den letzten Jahren. Opfer haben im Strafprozess mehr Rechte als früher und Anspruch auf sensible Betreuung nach der Tat. Aber in der öffentlichen und medialen Wahrnehmung dreht sich zu häufig noch immer alles um den Täter. Das Opfer bleibt in seiner Not, mit seinen Belangen und Bedürfnissen außen vor. Der Weiße Ring fordert eine Reform des Opferentschädigungsgesetzes. Wenn Gesetze opferfreundlicher gestaltet werden, hilft das konkret. Etwa indem belastende Mehrfachvernehmungen vermieden werden.
Was hat Sie veranlasst, sich für den Weißen Ring zu engagieren?
Herrscher: Seit 2005 bin ich im Ruhestand. Zunächst habe ich mich für die Bonner Senioren-Experten-Service engagiert, der von der deutschen Wirtschaft und dem Staat gesponsert wird. Da war ich in Auslandseinsätzen unter anderem in China, an der Wolga, Sibirien, Bulgarien, Mazedonien in Sachen strategisches Personalmanagment aktiv. Aber dann wollte ich etwas Soziales machen und habe den Kontakt zur Hilfsorganisation Weißen Ring gesucht. Ich wurde Mitglied und 2010 Leiter der Außenstelle im Landkreis Ansbach nach dem gesundheitlichen Ausscheiden von Inge Holzberger (eine ehemalige Juristin am Landratsamt, Anm. der Red.). Mittlerweile gibt es acht Helfer im Landkreis, die ehrenamtlich für den Weißen Ring tätig sind, darunter zwei Rothenburgerinnen. Neben Berufstätigen und Rentnern gehören auch Studenten zum Helferkreis der Opferhilfeorganisation. Rund 200 Opferfälle hat die Außenstelle in den letzten sechs Jahren betreut.
Welche Aufgaben übernehmen die Mitglieder des Vereins?
Herrscher: Wir bieten Opfern einer Straftat, die unter den seelischen, körperlichen und wirtschaftlichen Folgen leiden, Rat und Hilfe. Manchen Betroffenen reicht ein Telefonat oder ein Treffen, bei dem sie ihr Herz ausschütten können. Andere werden über Jahre betreut. Auch spät am Abend klingelt noch das Telefon des Vereins. Zu den Opfern gehören alle Altersgruppen, vom Jugendlichen bis zum Senior, die von Körperverletzung, psychischen Delikten, etwa Nachstellung oder anderen Bedrohungen betroffen sind. Wir begleiten sie zu Terminen bei Polizei, Staatsanwaltschaft und Gericht, geben Hilfestellungen im Umgang mit weiteren Behörden und vermitteln zu sozialen Netzwerken. Bei sexuellem Missbrauch von Kindern wird an die speziell geschulten Mitarbeiter vom Kinderschutzdienst vermittelt.
Wie sieht die Unterstützung bei materiellen Notlagen im Zusammenhang mit Straftaten aus?
Herrscher: Wir geben Hilfeschecks für frei wählbare anwaltliche und psychotraumatologische Erstberatung sowie für eine rechtsmedizinische Untersuchung. Der Weiße Ring übernimmt in bestimmten Fällen auch Anwaltskosten und Erholungsmaßnahmen für Opfer beziehungsweise hilft bei der Überbrückung tatbedingter Notlagen. Einer alleinerziehende Mutter von drei kleinen Kindern, die unter dem gewalttätigen Übergriff mit einem Tapeziermesser litt und als zweite Extremheit den sexuellen Missbrauch eines ihrer Kinder verarbeiten musste, finanzierte der Weiße Ring einen Badeurlaub an der Küste.
Welche Voraussetzungen müssen die Helfer mitbringen?
Herrscher: Sie sollten mit beiden Beinen fest auf dem Boden stehen und auf Menschen zugehen können, die Hilfe brauchen. Neben der Opferhilfe halten die Mitarbeiter auch auf dem Feld der Kriminalpävention in Schulen und Seniorenkreisen Vorträge, um zu verhindern, dass Menschen Opfer von Straftaten werden. Wir brauchen dringend personelle Verstärkung. Die Arbeit geht uns nicht aus. Es besteht ein dringender Aufklärungsbedarf bei Jugendlichen über die verschiedenen Formen des Internetmobbing wie beleidigen, bedrohen oder bloßstellen.
Der Umgang mit Opfern und ihren möglicherweise Traumatisierungen ist sicher nicht einfach.
Herrscher: Wir schulen die Ehrenamtlichen intensiv in einem Grund- und Aufbauseminar und in weiteren Fortbildungen. Sie lernen mit Traumasituationen umzugehen und müssen auch viele rechtliche Hindergründe kennen. Erfahrene Mitarbeiter begleiten sie dabei. Auch die Grenzen der Beratung müssen klar sein. Wir selbst übernehmen keine medizinische oder Rechtsberatung.
Nach der Kriminalitätsrate liegt die Zahl weiblicher Opfer deutlich höher als bei Männern.
Herrscher: Bei häuslicher Gewalt, Nachstellung und sexuellem Missbrauch sind vor allem Frauen die Opfer. Aber es gibt auch andere Fälle. Eine Akademikerin aus dem juristischen Bereich verprügelte ihren Lebensgefährten immer wieder und drohte ihm mit der Abschiebung zurück in seine Heimat. In anderen Fällen wurden Kinder und Jugendliche potentielle Opfer sexueller Übergriffe durch Angehörige, Freunde der Familie oder Nachbarn. Immer wieder werden ahnungslose Menschen auch mit Hilfe von K.o.-Tropfen hilflos oder handlungsunfähig gemacht.
Warum vertrauen sich Opfer dem Weißen Ring an und gehen nicht gleich zur Polizei?
Herrscher: Wir müssen nicht von Amtswegen tätig werden. Sobald die Polizei von einer Straftat erfährt, ist sie verpflichtet Ermittlungen aufnehmen. Dann nimmt das Verfahren seinen Lauf bis zur Klärung. Dort wo der Einzelne als Opfer aus Scham, Hilflosigkeit, Verzweiflung, Angst und fehlendem Vertrauen überfordert ist, greift die Arbeit unseres gemeinnützigen Vereins. Mir saßen schon Betroffenen gegenüber, die vor lauter Weinen und Schluchzen nicht antworten konnten. Ich erinnere mich an eine Geschäftsfrau, die in ihrem Laden mit einem Messer attackiert wurde und als quälende Folgeerscheinung über einen längeren Zeitraum keinen Ton mehr herausgebracht hat.
Der Weiße Ring hilft auch, wo das Leid und die Schäden von Opfern immer noch nachrangig behandelt werden wegen unzureichender Gesetze zum Opferschutz.
Herrscher: Die Witwe und die Waisenkinder eines Mordopfers hatten bei der Rentenversicherungsanstalt Probleme und waren froh, mit einem Helfer vom Weißen Ring eine Vertrauensperson vor Ort an der Seite zu haben. In einem anderen Fall hat die Berufsgenossenschaft einen Gewaltakt zunächst nicht als Arbeitsunfall anerkannt. In einer Hähnchenverarbeitungsfabrik waren zwei Mitarbeiter wegen der Pausenregelung aneinandergeraten. Ein 23-Jähriger schlug seinen älteren Kollegen zu Boden. Durch den Sturz auf harten Beton erlitt der 50-Jährige eine schwere Kopfverletzung, die zu einer Blutung im Inneren des Gehirns führte. Das Opfer lag tagelang im Koma und blieb für sein Leben gezeichnet. Wir haben ihm geholfen. sich gegen alle Widerstände durchzuboxen. Bei dem Angreifer handelte es sich um kein unbeschriebenes Blatt. Er war vorbestraft und stand unter Bewährung, als er erneut straffällig wurde.
Wann endet Ihre Arbeit?
Herrscher: Zu dem Zeitpunkt, wo das Opfer unsere Hilfe nicht mehr braucht. Die Unterstützung kann über Jahre gehen.
Wie schützen sich die Helfer selbst davor, ausgenutzt zu werden?
Herrscher: Versuche gibt es immer wieder. Ein Mann, der nicht zimperlich mit anderen umging, war selbst verprügelt worden. Mit Hilfe des Weißen Ring wollte er Anwaltskosten sparen. Als das nicht funktionierte, wurde er aufsässig und rabiat. Wir mussten diesem Vorgehen Einhalt gebieten und wurden eindringlich gewarnt, vorsichtig zu sein. Sein Bruder war ein Rotlichschreck mit brutalen Gewalttaten, der unliebsamen Zeitgenossen die Ohren abschnitt. sis
Beistand aus Solidarität
Auf der Suche nach etwas „Sinnvolles“ stieß der rüstige Rentner Karl Herrscher auf den Weißen Ring und absolvierte eine Ausbildung, um das nötige Rüstzeug für seine neue Funktion zu bekommen. Er ist immer wieder betroffen von dem Leid, das den Menschen angetan wurde, um die er sich kümmert. In seinem Wirkungskreis kann Karl Herrscher auf einen breiten Wissens- und Erfahrungsschatz zurückgreifen. Durch den frühen Tod seines Vaters musste er als Ältester von drei Geschwistern schnell erwachsen werden und auf eigenen Beinen stehen. Er lernte Buchdrucker und absolvierte in Weinheim eine Weiterbildung zum Offsetdrucker.
Um in der Heimat dem Wehrdienst zu entgehen, zog es ihn in die Schweiz und schließlich nach Südafrika. Zurück in Deutschland arbeitete er in Fürth und dann in Nürnberg im Druckbereich, ließ ein Studium der Betriebswirtschaft und -psychologie folgen und bekam eine Anstellung im öffentlichen Dienst bei der Bundesdruckerei in Berlin. Später wechselte Karl Herrscher zum Verband der Druckindustrie und wurde Personalchef in Unternehmen mit bis zu viertausend Beschäftigten. Mit seiner Frau, einer ehemaligen Ausbildungsleiterin für Hauswirtschaft in großen Krankenhäusern, lebt er in der Nähe von Dinkelsbühl.